Wie erzählt man die Geschichte einer Familie, wenn die gemeinsame Sprache in der Diaspora verloren geht?
Als 2018 Francesca Melandris „Alle, außer mir“ (ital. „Sangue giusto“) herauskam, las zum ersten Mal ein breiteres deutschsprachiges Publikum von (einem Teil) der italienischen Kolonialgeschichte. Ohne den literarischen Wert von Melandris Roman schmälern zu wollen, gibt es dennoch Schwarze Autor*innen in Italien, die sich schon sehr viel länger mit diesem noch immer unaufgearbeiteten Kapitel der italienischen Geschichte und dessen Folgen beschäftigen. Eine davon ist die somalisch-italienische Autorin Ubah Cristina Ali Farah, deren nun erstmals auf Deutsch erschienener Roman „Der Kommandant des Flusses“ (ital. „Il comandante del fiume“) bereits 2014 herauskam. Letztes Jahr wurde dieser sowie Farahs erster Roman „Madre piccola“ vom italienischen Verlag neu aufgelegt, was von einem gesteigerten Interesse an der Autorin zeugt.
Mit ihrem Roman „Der Kommandant des Flusses“ begibt sich Ubah Cristina Ali Farah auf die Spuren der somalischen Diaspora, ihrer Trauer, Tabus und ihres Schmerzes. Italien kommt dabei eine ambivalente Rolle zu: Einst das Land der Kolonisatoren ist es für viele Somalis der Rettungsanker vor einem bis heute andauernden Bürgerkrieg, der sie allerdings nicht vor Entwurzelung und Rassismus schützt.
Yabar, der Protagonist, lebt mit seiner Mutter Zahra in Rom, wohin die Familie aus Somalia vor politischen Unruhen geflüchtet ist. Inzwischen achtzehn Jahre alt, ist Yabar zu einem rebellischen und wenig motivierten Jugendlichen herangewachsen. Sein Vater hat die Familie vor Jahren verlassen, der Schmerz darüber sitzt tief. Dennoch treibt ihn die Frage um, was aus seinem Vater geworden ist. Er versteht nicht, warum seine Mutter sich weigert, darüber zu sprechen. Als er in der Schule scheitert und von seiner Mutter zu deren Schwester nach London geschickt wird, findet er sich dort in einem ihm unbekannten somalischen Mikrokosmos wieder und kommt einem schrecklichen Familiengeheimnis auf die Spur. Schockiert reist er nach Rom zurück, wo er seine Mutter mit der Vergangenheit konfrontiert und Erklärungen verlangt.
Ein wichtiges Buch über eine Generation voller Fragen an die eigene Vergangenheit. Fragen an ihre Eltern, die nach Europa flüchteten und im Bemühen um Integration, um ein normales Leben, die traumatischen Erlebnisse wegdrückten und eine Leerstelle im Gedächtnis hinterließen.
»Der Kommandant des Flusses« von Ubah Cristina Ali Farah, Orlanda Verlag 2024. Zum Buch