Rébecca Chaillon ist in Frankreich kein unbeschriebenes Blatt. In so radikalen Arbeiten wie „Où la chèvre est attachée, il faut qu’elle broute“ (dt.: Wo die Ziege angebunden ist, muss sie grasen), „Whitewashing“ und ihrem letzten Geniestreich für junges Publikum, „Plutôt vomir que faillir“ (dt.: lieber kotzen als scheitern) geht sie postkolonialen Kontinuitäten, Sexismus und Körperpolitik nach. Auf der diesjährigen Ausgabe des Festival d’Avignon präsentierte „La Chaillon“, wie sie von Mitstreiter*innen und Followern bewundernd genannt wird, ihr bislang eindrucksvollstes Werk, und schlug – erwartungsgemäß – hohe Wellen.

Die Bühne ist weiß und erstrahlt in sterilem Licht. Von der Decke des Gymnase du lycée d’Aubanel hängen Eisklumpen, die langsam schmelzen und dunkelrote Lachen auf den Boden zeichnen. Rébecca Chaillon versucht unerträgliche 45 Minuten lang frenetisch jeden Fleck wegzuwischen, wobei sie den Scheuerlappen und später ihre weißen Kleidungsstücke immer wieder in beißendes Chlorwasser taucht. „Diese Bühne repräsentiert für mich das kalte Frankreich, in dem ich aufgewachsen bin“, wird die Schwarze Künstlerin aus der Picardie mit martiniquanischen Wurzeln in einem Publikumsgespräch erklären, zu dem auch Léonora Miano geladen ist. Am Bühnenrand dreht die Keramikkünstlerin Ophélie Mac kleine weiße Tassen aus Ton, aus denen die Performerinnen 80 Minuten später von der Sopranistin Makeda Monnet herausgesquirteten schwarzen Kaffee schlürfen. Kaffee und Begehren dominieren die Symbolik der Performance. Das „Carte noire“ im Titel ist einer französischen Kaffeemarke entlehnt, die mit Schwarzen Frauenkörpern wirbt. Die Performance handelt von den Erfahrungen afrodiasporischer Frauen in Kontinentalfrankreich. Wie kaum eine andere Arbeit Chaillons seziert sie das kollektive Unterbewusstsein der weißen Mehrheit und lässt selbst aufrechte Antirassist*innen verschämt im Sessel versinken.

Der Höhepunkt weißer Fragilität ist erreicht, als die Performerinnen wie in einer Fernsehshow rassistische Begriffe vorspielen, die von Zuschauer*innen erraten werden sollen. Von Aurore Déon mit Witz und, im Verlauf, authentischer Wut genial moderiert, ruft das Publikum die Lösungen zunächst zögerlich, lässt sich von der ausgelassenen Stimmung auf der Bühne jedoch schnell mitreißen, bis die ersten Lacher im Hals stecken bleiben. Als das Schweigen der europäischen Linken zu der massiven Polizeigewalt gegen Schwarze Jugendliche zur Sprache kommt, gehen im Publikum Stinkefinger hoch. Beim Nachstellen von „Kolonialismus“ – die Performerinnen verteilen sich im Publikum und sammeln Jacken und Taschen ein –, wird ein Zuschauer handgreiflich, flankiert von verbalen Ausfällen im Stile „Das ist unser Land“ und „Geht zurück wo ihr herkommt“. Dieselbe Performerin wird am nächsten Tag auf offener Straße von einer Person aus dem Publikum verbal angegriffen. Kontinentalfranzösische Regionalzeitungen nehmen die Schaffung eines Safe Space für Schwarze Zuschauerinnen sowie Fotos der Aufführung, die eine Performerin mit aufgespießten weißen Puppen zeigt, zum Anlass für rechtsnationale Hetze. „Wir haben das Stück 60 Mal gespielt, wir waren in Deutschland, in der Schweiz… Nirgendwo ist uns solcher Hass entgegengeschlagen“, kommentiert die Gruppe die Vorkommnisse. Das entbindet aber weder die kulturellen Eliten in Deutschland noch in anderen europäischen Ländern von der Pflicht, ihren eigenen Institutionen auf den Zahn zu fühlen.

Vom 28. November bis 17. Dezember wird die Inszenierung am Pariser Odéon gezeigt – jedoch nicht ohne ein strenges Sicherheitskonzept.

Weitere Informationen:

2020 präsentierten Rébecca Chaillon und Aurore Déon die Performance „Whitewashing“ im Rahmen der Drama-Panorama-Veranstaltungsreihe Afropéennes – Afropäerinnen in Berlin. Eine frühere Version von „Carte noire nommée Désir“ (dt. Fassung: Trink mich, solange ich heiß bin) ist in dem Band Afropäerinnen (Neofelis Verlag) erschienen, herausgegeben von Charlotte Bomy und Lisa Wegener.